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Der Plan der Tampa Bay Lightning ist voll aufgegangen: Ohne die Langzeitverletzten Nikita Kucherov und Steven Stamkos konnte man sich aufgrund der Kadertiefe dennoch souverän für die Playoffs qualifizieren und die beiden Stars ohne Hatz und Druck in Form kommen und genesen lassen.

Und jetzt sind sie der „Faktor X plus“ in der erstmals in den Playoffs stattfindenden Battle of Florida. Das ist nur möglich, weil GM Julien BriseBois und Chefcoach Jon Cooper ihre Kaderstrategie meisterhaft beherrschen.

Schon im 2020 musste Steven Stamkos verletzungshalber lange pausieren und kam in den Playoffs wieder zurück ins Team. Und nun landete zu Saisonbeginn erneut einer der absoluten Topstars der Tampa Bay Lightning auf der Langzeit-Verletztenliste: Nikita Kucherov. Aber die Bolts kannten ja die Situation und es war gewissermassen ein Déjà vu. Aber selbst einen solchen Ausfall konnte man kompensieren. Und später dann auch noch einen erneuten Ausfall von Steven Stamkos.

Dass die Stanley Cup-Titelverteidiger nicht in Panik verfielen, hatte einerseits mit der Tatsache des Déjà vu zu tun und andererseits auch mit der Kadertiefe, die Julien BriseBois schon seit Jahren garantiert. Das Motto heisst: „Es gibt für alles eine Alternative“. Der junge GM ist ein Schüler von Steve Yzerman, der vor Jahren in Tampa eine bestimmte „GM Kultur“ etablierte. Selbst die Topstars geniessen hier keine Privilegien. Zumindest keine offensichtlichen. Alles wird einer bestmöglichen Teamchemie untergeordnet – und zwar nicht nur in der Garderobe und auf dem Eisfeld, sondern auch im Trainerteam, im Backoffice und auf der Teppichetage. Man versucht bewusst die spielerische Qualität und die Schlüsselrollen auf viele Schultern zu verteilen.

Dieses Setup ermöglichte, dass die Bolts ohne zwei ihrer Topstars locker in die Playoffs marschierten und nun jetzt mit einem zusätzlichen „Boost“ auftrumpfen. Dieser Schub nutzt Tampa und demoralisiert die Florida Panthers.

BriseBois und Cooper haben alles im Griff

Es war zwar klar: Nikita Kucherov kann man nicht ersetzen, aber dem Team Stabilität verleihen. Dies hatte man bereits getan mit der ohnehin schon geplanten Vertragsverlängerung mit Center Anthony Cirelli. Auch konnte man erwarten, dass junge Spieler wie wie Ross Colton und Mathieu Joseph ihre Chancen auf einen Stammplatz nutzen. Mit der Midseason Verpflichtung von Topskater und Forechecker Blake Coleman ist ein Coup gelungen, denn dieser ist erwiesenermassen einer der schnellsten und am schwierigsten zu bespielenden NHL-Profis, wenn es ums Umschaltspiel geht. Das Setup mit noch einigen erwiesenen Playoffspezialisten (Killorn, Maroon...) ist optimal. Fazit: Mal wieder alles richtig gemacht, Julien BriseBois. Nicht zu vergessen auch Jon Coopers Kadermanagement bezüglich der Einsätze und der Bildung der Verteidigerpaare und Offensivtrios. Und niemand kann auf der Centerposition eine so ideale Besetzung vorweisen mit Brayden Point, Anthony Cirelli, Yanni Gourde und Tyler Johnson.

Einziger Punkt, wo Kritik angebracht sein könnte: Zwischen den Pfosten liegt viel zu viel Verantwortung auf Andrei Vasilevskiy.

„Win-Win“-Situation: Chapeau „Stratege“ BriseBois

Durch Kucherovs Ausfall ergeben sich zudem weitere, interessante Ausgangslagen, wie die folgenden, leicht paradoxen Situationen: Nicht nur, dass man während der Saison eine Kompensationsmöglichkeit mit einer Salary Cap-Überschreitung von zirka 9,5 Millionen hatte. Es ergeben sich auch für einige Spieler wieder Chancen, in der Teamhierarchie zu steigen und zu alter Stärke zurückzufinden. Zum Beispiel bei Tyler Johnson. Er wurde auf die Waiver List gesetzt, um seinen hoch dotierten Vertrag von der Gehaltsobergrenze zu nehmen. Ausserdem ist der Kader so tief besetzt, dass Johnson mittelfristig keine der Hauptrollen mehr in den Plänen von Julien BriseBois spielt(e). Nun aber ist der polyvalente Stürmer auf einmal eine optimale Lösung als Dritt- oder Viertlinien-Center beziehungsweise -Flügel. Und man beachte: In den Playoffs gilt keine Salary Cap mehr. Also schöpfen die Bolts kadertechnisch hier aus dem Vollen. Chapeau!

Paradox ist zudem, dass die „Bolts“ auch ohne einen Spielmacher-Typ wie Kucherov in der Offensive nach wie vor unberechenbar bleiben. Fazit: Selbstverständlich ist Nikita Kucherov – wie er jetzt wieder beweist - ein so genannter „Difference Maker“. Einer, der mit seiner Spielübersicht und seinen spielerischen, läuferischen und schusstechnischen Skills (speziell sein Direktschuss aus der Halbdistanz) Spiele entscheidet. Und vielleicht hatte sein Ausfall sogar etwas mehr Auswirkungen als jener von Steven Stamkos vor einem Jahr. Aber jetzt, wo beide wieder voll einsatzfähig waren, sind sie beeindruckend: Stamkos ist ein ausgesprochener Powerstürmer mit noch ausgeprägteren Abschlussqualitäten, der gerne profitiert von seinen Spielmachern im Team wie etwa Nikita Kucherov oder Brayden Point. Die Bolts wurden so vielleicht zu einem noch gefährlicheren Anwärter auf den Stanley Cup als beim Titelgewinn 2020.

Joël Ch. Wuethrich publiziert wöchentlich Hintergrundberichte über die NHL in der führenden Deutschen Fachpublikation Eishockey News und hat ein ausgezeichnetes Beziehungsnetz in Nordamerika. Seit 1992 ist er Chefredaktor diverser namhafter Publikationen, unter anderem auch war er beim Slapshot sowie beim Top Hockey Chefredakteur und war zudem lange Jahre für den Spengler Cup strategisch in Marketing und PR sowie als Chefredaktor tätig. Joël Ch. Wuethrich leitet seit 1992 hauptberuflich eine crossmedial aufgestellte PR-Agentur und eine Player's Management Agentur (Sportagon), ist Crossmedia-Stratege und HF-Dozent mit Lehrauftrag für Kommunikation und Marketing. Er analysiert seit 30 Jahren als Autor/Chefredakteur in der Schweiz, Deutschland sowie in Kanada die NHL und beobachtet das Eishockeygeschehen weltweit intensiv. Der Familienvater (zwei Kinder) arbeitet in der Schweiz und in Montréal, wo ein grosser Teil seiner Verwandtschaft wohnt.

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