NHL Observer

Tampa Bay Lightning – erneut einer der heissesten Kandidaten auf den Stanley Cup 2023? Die Antwort ist ja, auch wenn 2022 der Masterplan für den "Threepeat“ nur fast aufgegangen ist. Aber in der Bay Area gab es – wie die letzten Jahre auch - keinen Blitzeinschlag in Form einer Infragestellung der mittelfristigen Kaderstrategie. Ganz im Gegenteil: Die Bolts bleiben unbeirrt ihrer bisherigen Strategie treu. Und das macht durchaus Sinn – zumindest jetzt noch.

Das mit der Dynastie ist nicht ganz aufgegangen. Und dennoch erachten die NHL-Fachleute das Konzept der Tampa Bay Lightning als nach wie vor stimmig und mit Erfolgspotenzial für weitere drei bis vier Jahre. Denn fast alle Schlüsselspieler und Leistungsträger sind im besten Hockeyalter und man schafft es Jahr für Jahr immer wieder, alternde Stars wie zuletzt Ryan McDonagh durch jüngere gleichwertige zu ersetzen - oder zumindest durch Spieler, die zeitnah zu neuen Leistungsträgern werden können.

Diese Strategie der Tampa Bay Lightning der letzten drei Saisons hat zu zwei Stanley-Cup-Triumphen in Folge geführt und einer Stanley-Cup-Finalteilnahme. Und dies, nachdem man 2019 bereits als Favorit auf den Titel eine schmerzliche Playoff-Erstrunden-Blamage hatte schlucken müssen. Manche werden sagen: der „Threepeat“ ist misslungen und die Plattitüde „knapp vorbei ist auch daneben“ zitieren. Das würde aber zu kurz greifen und dem bereits von Steve Yzerman aufgesetzten und von Julien BiseBois glänzend umgesetzten Masterplan (wurde damals als Yzerplan tituliert, wie jetzt auch in Detroit) nicht gerecht werden. Das Motto heisst demnach auch in diesem Jahr wieder „Stick to the Plan“ und man startet mit einem fast identischen Mannschaftskern inklusive Rollenspieler in die nächste Saison.

Der wahre Schlüsselakteur heisst Julien BriseBois

Umso wichtiger waren demnach einige Vertragsverlängerungen und einmal mehr das Salary Cap-Management von General Manager Julien BriseBois. Dass dieser ein gewiefter Stratege ist, wissen alle in der NHL. Er hat diesen Sommer einmal mehr ganze Arbeit geleistet. Der Montréalais ist ein Ziehkind von Steve Yzerman und hatte bereits 2019 die richtigen Lehren aus dem bitteren Erstrunden-Playoff-Aus vor drei Saisons gezogen. BriseBois plant immer mittelfristig und hat die Salärobergrenze im Griff.

Fehlen wird diese Saison Ondrej Palat, als einer der wenigen aber umso prominenteren Abgänge. Palat war in taktischer aber auch spielerischer Hinsicht ein Schlüsselspieler der Bolts und der wohl beste Secondary Scorer im Team. Die Bolts wissen aber, dass sie nicht nur bezüglich Topskorer gut aufgestellt sind, sondern eben auch in ihren dritten und vierten Sturmtrios torgefährliche Akteure im Dienst der Mannschaft haben. Wird Tampa Bay erneut – wie im Jahr zuvor bei Yanni Gourde – einen herben Verlust eines wichtigen Leistungsträgers ausbalancieren können? Vieles deutet darauf hin, dass es erneut gelingen wird, da Spieler wie Ross Colton oder Nick Paul (kann sowohl Center wie auch Flügel spielen) sich in die gewünschten Rollen einfügen können. Pat Maroon und Corey Perry sind weiterhin Leistungsträger und Vorbilder und die jungen Alex Barre Boulet, Gemel Smith und Gabriel Fortier drängen auf ihre Chance. Besonders stark einmal mehr: Die Centerpositionen mit Steven Stamkos, Brayden Point, Anthony Cirelli und Pierre-Edouard Bellemare.

Unerwartete Unruhe im sonst eher ruhigen Bolts-Mikrokosmos

Etwas mehr Bewegung gab es im Defensivverbund. Ryan McDonagh ist nicht mehr da als einer der „Doyens“ in der Bolts-Verteidigung. Auch Jan Rutta ist weg. Nun schlägt die Stunde für Haydn Fleury und Cal Foote, sich noch besser als NHL-Fixstarter zu etablieren. Dennoch baut man auch hier auf Kontinuität: Mikhail Sergachev spielt nun dauerhaft neben Victor Hedman und Erik Cernak wohl mehrheitlich mit Cal Foote. Auch dieser Mannschaftsteil profitiert von einer Top-Kadertiefe: Philippe Myers ist ebenso ein Kandidat für die Top 6 wie auch die Veteranen Brent Seabrook und Zach Bogosian sowie der Stanley-Cup-Sieger 2016 Ian Cole. Dieser ist nun jedoch in einem möglichen Sexbelästigungs-Skandal verwickelt und vorübergehend vom Kader gestrichen, bis alle Untersuchungen abgeschlossen wurden. Es gilt hierbei wie immer in einem Rechtsstaat die Unschuldsvermutung, was die Angelegenheit angesichts der in nordamerikanischen Eishockeykreisen aktuell stark sensibilisierten Thematik nicht einfacher machen wird.

Gesunder Konkurrenzkampf

Fazit: Wie schon die letzten Jahre zuvor vertraut man in Tampa weiterhin auf den bewährten Mannschaftskern und macht vor und während der Saison einige punktuelle Anpassungen, die jedoch immer Wirkung zeigen. Die strategische Ausrichtung bei der Kaderplanung bleibt somit mittelfristig gleich. Schnelligkeit und Unberechenbarkeit ist – wie auch in den Jahren zuvor - noch immer das Motto der Lightning. Im Normalfall und ohne grosses Verletzungspech müsste Jon Coopers Mannschaft auch heuer wieder zu den Favoriten um den Titel gehören. Die Mannschaft ist zusammengewachsen und die Automatismen stimmen auch heuer wieder. Im taktischen Bereich profitiert Chefcoach Jon Cooper von der Polyvalenz einiger Schlüsselspieler – auch wenn Gourde und Johnson nicht mehr zur Verfügung stehen. Gegen Jon Coopers Team zu spielen ist nicht einfach. Taktisch ist das Team diszipliniert, ohne dass es an Kreativität mangelt. Die Verteidiger spielen einen hervorragenden ersten Pass aus der eigenen Zone. Besonders unter Berücksichtigung der Schnelligkeit der Stürmer und des hervorragenden Umschaltspiels (eines der schnellsten der Liga in der Mittelzone) ist dies eine starke Waffe. Der Konkurrenzkampf innerhalb der Mannschaftsteile ist gegeben, aber nicht übermässig gross. Es macht den Anschein, als ob fast jeder auf seiner Lieblingsposition agieren darf, was gewisse Friktionen innerhalb der Mannschaft ausschliesst.

Joël Ch. Wuethrich publiziert wöchentlich Hintergrundberichte über die NHL in der führenden Deutschen Fachpublikation Eishockey News und hat ein ausgezeichnetes Beziehungsnetz in Nordamerika. Seit 1992 ist er Chefredaktor diverser namhafter Publikationen, unter anderem auch war er beim Slapshot sowie beim Top Hockey Chefredakteur und war zudem lange Jahre für den Spengler Cup strategisch in Marketing und PR sowie als Chefredaktor tätig. Joël Ch. Wuethrich leitet seit 1992 hauptberuflich eine crossmedial aufgestellte PR-Agentur und eine Player's Management Agentur (Sportagon), ist Crossmedia-Stratege und HF-Dozent mit Lehrauftrag für Kommunikation und Marketing. Er analysiert seit 30 Jahren als Autor/Chefredakteur in der Schweiz, Deutschland sowie in Kanada die NHL und beobachtet das Eishockeygeschehen weltweit intensiv. Der Familienvater (zwei Kinder) arbeitet in der Schweiz und in Montréal, wo ein grosser Teil seiner Verwandtschaft wohnt.

NHL Observer

Was passiert hinter den Kulissen der NHL und was steckt hinter den Geschichten, die uns bewegen? NHL Insider Joël Ch. Wuethrich öffnet für SHN sein NHL Netzwerk.