NHL Observer

Nach den erfolgreichen Playoffs 2021, die in einer Stanley-Cup-Finalteilnahme mündete, musste Marc Bergevin aufgrund mehrerer unerwarteter Umstände in der Sommer-Transferperiode ein hohes Mass an Flexibilität beweisen. Und wer dachte, das war schon aufregend genug, wurde eines Besseren belehrt.

Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass in Sachen NHL-Eishockey in Montréal so richtig die Post abgeht. Jahr für Jahr sorgen viele Umstände für Aufregung – im positiven wie auch „polemischen Sinne“. Es scheint so, als hätte man in Montréal die Polemik erfunden. Es finden sich immer wieder Gründe, Kritik anzubringen. Die Medien sind auf allen modernen und traditionellen Kanälen allgegenwärtig und die NHL Stars spüren die Erwartungshaltung wie ein Damoklesschwert im Nacken. Manche spornt dieses Gefühl an, anderen geht es auf die Psyche.

So auch Carey Price, der, wie zuvor sein Teamkollege Jonathan Drouin, sich nun eine Auszeit von einem „mentalen Burnout“ zugesteht. Der sensible Olympiasieger 2014 hat sich aufgrund „mentaler Probleme“ in das Spielerhilfsprogramm der Liga und der Spielergewerkschaft NHLPA begeben. General Manager Marc Bergevin sagte, dass Price mindestens 30 Tage fehlen werde, sich der Zeitraum aber auch verlängern könne. Seine Frau Angela erklärte den Sachverhalt in einem Beitrag auf Instagram: „Carey hat für sich selbst und unsere Familie die bestmögliche Entscheidung getroffen“, schrieb sie. Die Familie habe aufgrund ihrer öffentlichen Bekanntheit das Privileg anderen zu zeigen, wie sie einen Weg der Besserung einschlagen können. „Egal, worum es nun geht, wir hoffen, dass wir deutlich machen können, dass mentale Gesundheit an erster Stelle steht – und zwar nicht nur, indem wir das sagen, sondern auch daran arbeiten.“ Price hatte sich im Sommer eine Knieoperation unterzogen und wäre bis zum Saisonauftakt am 13. Oktober gegen Toronto nicht fit geworden. Vieles spricht dafür, dass Carey Price zu viel von sich selbst erwartet, wie es sein ehemaliger Coach und Goalietrainer-Legende Stéphane Waite in einer Sendung auf RDS bestätigte. Eine zusätzliche Belastung ist sein Vertrag und die damit verbundenen Erwartungen: Mit 10,5 Millionen noch bis 2026 ist er nicht nur der designierte Franchise-Player, sondern auch mit Abstand der Topverdiener bei den „Habs“. Man weiss auch aus Aussagen aus seinem Umfeld, dass die Stanley-Cup-Finalniederlage ihn sehr belastet. Wohl wissend, dass die Wahrscheinlichkeit, wieder um den Cup zu spielen, in aller Regel gering ist, wenn man nicht bei einem dominanten Team spielt. Vor Jahren beschwerte er sich, dass er in Montréal nicht mal in aller Ruhe zum Bäcker gehen könne. Und wurde deswegen belächelt. In Montréal ein NHL Spieler zu sein geht einher mit vielen Herausforderungen. Es braucht eine dicke Haut, um die Erwartungshaltung ertragen zu können. Drei TV-Sender decken 24/7 ab, was sich im Sport und besonders bei den „Habs“ tut. Im Gegensatz zu Toronto konzentriert sich fast die gesamte Aufmerksamkeit der sportinteressierten Bevölkerung - trotz anderen populären Sportclubs im Profi-Mannschaftssport - auf's Eishockey.

Jetzt sind Flexibilität und Leadership gefragt

Nun sorgt man sich in Montréal, wie denn nun der Saisonstart verlaufen würde. Die verletzungsbedingten Ausfälle weiterer Top-Leader im Team sind schwer aufzufangen: Es fehlen Joël Edmundson, Mike Hoffman, Paul Byron (fünf Monate Absenz) und vor allem Shea Weber. Es ist nicht einmal sicher, ob er jemals wieder eine NHL Saison spielen wird. Der Captain war, trotz einer leichten Verletzung, in den Playoffs der Fels in der Brandung und ist speziell als Führungs- und Respektperson nicht zu ersetzen (vergleiche Artikel in diesem Blog: „Mit einem weinenden Auge“). Dass David Savard verpflichtet wurde, war ein Glücksfall und gibt der Situation immerhin sportlich etwas Puffer, da es den Verlust etwas abschwächt.

Und dann kam es – das Erdbeben: Die Carolina Hurricanes machten eine so genannte „Hostile Offer“ an Jesperi Kotkaniemi für ein Jahr im Wert von 6,1 Millionen. Aufgrund der mittelfristigen Situation mit der Gehaltsobergrenze konnte und wollte „Habs“-GM Marc Bergevin die Offerte nicht kontern. Auf einmal war die Centerposition für das zweite Offensivtrio nicht besetzt. Reagiert wurde mit der Verpflichtung von Christian Dvorak, einem Amerikaner, der jedoch eher einem Profil wie Danault als dem von Kotkaniemi entspricht. Dennoch: Dvorak ist noch jung und hat sich trotzdem schon in der NHL als Zweit- oder Drittliniencenter etabliert.

Zuvor haben aber auch noch andere Ereignisse für Unruhe gesorgt, nachdem man den nun für ein Jahr ausser Gefecht gesetzten Shea Weber David Savard verpflichtet hatte. Mit Mike Hoffman kam ein wichtiger Spieler für das Powerplay und ein Skorertyp. Cedric Paquette und Matthieu Perreault wurden als Defensivstürmer engagiert. Vertragsverlängerungen wie jene mit Joel Armia und Artthuri Lehkonen kamen zustande. Mit Hinblick auf die aktuelle Gehaltsobergrenze und den für das kommende Jahr zu erwartenden Vertragsverhandlungen mit jungen Schlüsselspielern wie Nick Suzuki konnte aber der Playoff-Schlüsselspieler Phillip Danault nicht gehalten werden. Auch und vor allem nicht aufgrund der kurz- und mittelfristigen Salary Cap Situation.

Einige Fragezeichen, aber auch die Hoffnung auf die Jungstars

Die Canadiens de Montréal besitzen trotz aller Aufregung und Umstände nun auch heuer wieder ein schlagkräftiges, gut ausbalanciertes Team in allen Mannschaftsteilen. Das „Secondary Scoring“ scheint abgesichert, denn speziell auf den Flügelpositionen stehen in allen Offensivtrios Spieler zur Verfügung, die auch regelmässig Tore vorbereiten oder selbst erzielen können. Ausserdem: Junge Spieler rücken nach und andere werden in dieser Saison eine noch wichtigere Rolle erhalten: Nick Suzuki ist der Center Nummer Eins, Cole Caufield wird häufiger eingesetzt werden in Überzahl und erhält mehr Eiszeit, Alexander Romanov wird fest integriert in die Top Six in der Verteidigung und Jake Evans erhält wohl die Chance, als Drittlinien-Center die Saison zu starten.

Die Canadiens sind also hochkarätig besetzt in der Offensive - haben aber dennoch zwei nicht zu unterschätzende Probleme: Mit Nick Suzuki steht nur ein Top-Center zur Verfügung. Christian Dvorak ist eher ein Drittlinien, denn ein Zweitlinien-Center. Als potenzielle Drittlinien-Center stehen „nur“ zwei weitere junge (Evans, Poehling) und zwei erfahrene Centerspieler mit Paquette und Perreault bereit. Es fehlt ganz einfach der typische Offensivcenter für die zweite Sturmlinie. Eine Lösung könnte sein, dass der nach seiner persönlichen Auszeit wieder zur Verfügung stehende sehr spielstarke aber taktisch nicht so zuverlässige Jonathan Drouin - eigentlich ein gelernter Center, aber viel effizienter als Flügel – sich wieder als Center versucht. In der Defensive kann man auf drei solide Duos zählen mit vier gesetzten Stars: Jeff Petry als effizientester Offensivverteidiger und den Playoffhelden Joel Edmundson (zum Saisonstart noch verletzt) und Ben Chiarot sowie neu mit David Savard (Titelgewinn 2021 mit Tampa).

** Der Autor ist Inhaber einer Marketingagentur, Marketingdozent und erfahrener Sportvermarkter.

Joël Ch. Wuethrich publiziert wöchentlich Hintergrundberichte über die NHL in der führenden Deutschen Fachpublikation Eishockey News und hat ein ausgezeichnetes Beziehungsnetz in Nordamerika. Seit 1992 ist er Chefredaktor diverser namhafter Publikationen, unter anderem auch war er beim Slapshot sowie beim Top Hockey Chefredakteur und war zudem lange Jahre für den Spengler Cup strategisch in Marketing und PR sowie als Chefredaktor tätig. Joël Ch. Wuethrich leitet seit 1992 hauptberuflich eine crossmedial aufgestellte PR-Agentur und eine Player's Management Agentur (Sportagon), ist Crossmedia-Stratege und HF-Dozent mit Lehrauftrag für Kommunikation und Marketing. Er analysiert seit 30 Jahren als Autor/Chefredakteur in der Schweiz, Deutschland sowie in Kanada die NHL und beobachtet das Eishockeygeschehen weltweit intensiv. Der Familienvater (zwei Kinder) arbeitet in der Schweiz und in Montréal, wo ein grosser Teil seiner Verwandtschaft wohnt.

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Was passiert hinter den Kulissen der NHL und was steckt hinter den Geschichten, die uns bewegen? NHL Insider Joël Ch. Wuethrich öffnet für SHN sein NHL Netzwerk.